In der vorliegenden Arbeit wird die Art und Weise beleuchtet, wie Kindsmord als Schlüsselproblem im späten 18. Jahrhundert in der Literatur von Sturm und Drang behandelt wurde. Anhand der zwei repräsentativen Werke dieser Tendenz, Goethes Urfaust u...
In der vorliegenden Arbeit wird die Art und Weise beleuchtet, wie Kindsmord als Schlüsselproblem im späten 18. Jahrhundert in der Literatur von Sturm und Drang behandelt wurde. Anhand der zwei repräsentativen Werke dieser Tendenz, Goethes Urfaust und Wagners Die Kindermörderin betrachten wir welche Diskussionen um Kindsmord in der Epoche des Sturm und Drangs ausgetragen wurden.
Das Motiv des Kindsmords fungiert in der Literaturgeschichte konsequent als Schnittpunkt zwischen gesellschaftlichen Ordnungen wie Strafrecht und Bevölkerungspolitik und verschiedenen Einstellungen zu Ehe sowie Frauen. Das Motiv wurde je nach Autor und Epoche aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommen und umgestaltet. Besonders wichtig ist aber das späte 18. Jahrhundert in der Geschichte dieses Motivs: Da verzeichnete das Verbrechen des Kindsmords eine bemerkenswerte Zahl und wurde somit zum Problem, das auf stattlicher Ebene zu lösen galt, und das viele Schriftsteller beschäftigten. Weil es in dieser Zeit zu einer Reform der Justiz kam, die nicht nur die objektiven strafrechtlichen Anforderungen, sondern auch die subjektive wie psychologische Situation und Motivation des Täters berücksichtigte, erhoben sich Stimmen, die eine Verbesserung des Bewusstseins für Kriminelle und eine Milderung übermäßig harter Strafen forderten. In Übereinstimmung mit dem Geist von Sturm und Drang, der für die individuelle Freiheit und Emanzipation des Gefühls stand, wollten die Dichter diese Bewegungen mit dem Thema Kindsmord ins Werk setzen.
Goethes Urfaust ist ein wegbereitendes Werk über das Kindsmordmotiv in dieser Zeit. Im Werk zeigte der Autor, der als Jurist und Politiker zur Abschaffung der Kirchenbuße beitrug, eine mitfühlende Einstellungen gegenüber alleinerziehenden Müttern und Kindermörderinnen. Es ist aber auch eine unbestreitbare historische Tatsache, dass er die Todesstrafe von Kindermörderinnen unterstützte. Goethes zwiespältige Haltung gegenüber dem Kindsmord wurde als "Auch-ich"-Legende bezeichnet und führte zu vielen Kontroversen. In der vorliegenden Arbeit wird aufgezeigt, dass diese Problematik auch in Urfaust zu finden ist. Zunächst hat er in der "Gretchen-Tragödie", die einen großen Teil des Werkes ausmacht, die sozialen Ursachen, die Kindsmord fördern, konkret dargelegt und Gretchen als ein Sympathieobjekt dargestellt, womit er bestätigte, dass er das Kindsmordproblem kritisierte. Jedoch ist kritisch anzusehen, dass Fausts Liebe zu Gretchen problematisch ist und die Erlösungsmöglichkeit Gretchens trotz dessen treuen und mütterlichen Charakters nicht angesprochen ist. Besonders Gretchens Gehorsam gegenüber den drei Urteilen kann zur Rechtfertigung des Todesurteils gegen Kindermörderinnen dienen. Diese Aspekte können als die Grenze des Werkes bewertet werden, da es im Grunde eine männerzentrierte Erzählung ist.
Wagners Die Kindermörderin ist ein Tendenzdrama, das seine Absichten zur Enthüllung des Kindsmordproblems aktiv zum Ausdruck bringt und das Grauen des tragischen Unglücks unverhüllt beschreibt. Diese derbe Darstellung führte jedoch entgegen der Absicht des Autors zu heftigen Kontroversen um die Umarbeitung des Werkes, die fast 200 Jahren dauerten. Doch aus der historischen Tatsache, dass Die Kindermörderin die ‚Mannheimer Preisfrage‘, die Kristallisationspunkt der Kindsmorddebatte, ins Leben rief, lässt sich behaupten, dass dieses Drama dazu beitrug, das Publikum mit der tragischen Realität des Kindsmords zu konfrontieren und Verhütungsmaßnahmen zu entwickeln. Wagner machte darauf aufmerksam, dass Kindsmord nicht einfach eine Tragödie auf individueller Ebene sei, sondern eine auf gesellschaftlicher. Durch die Gestaltung der Personen zeigt er viele soziale Ursachen des Kindsmords: die Frauenfeindlichkeit unter Soldaten, die schädliche Auswirkungen der patriarchaler Bürgermoral und des Mutterliebesdiskurses, die Absurdität des Sozialsystems und die Unmenschlichkeit von Recht und Gesellschaft. Darüber hinaus verstärkte der Autor durch die kritische Verwendung von verschiedenen gesellschaftlich verbreiteten Diskursen um Kindsmord seine Botschaft. Wagner entlehnte die Form des bürgerlichen Trauerspiels und stürzt aber dessen typischen Rahmen um, um die Missstände der Bürgermoral sichtbar zu machen. Er wirf der Gesellschaft vor, den Kindsmord auf ein individuelles Problem zu reduzieren, indem er die damals gängige Diskurse über Melancholie und männliche Verführer kritisch prüfen lässt. Überdies zeigt er durch die Figur Frau Martan eine wünschenswerte Haltung angesichts dieses sozialen Problems, was er schließlich im Publikum fordern möchte.