Mit Balzac beginnt die Sichtbarmachung von Paris. Renaissance und Klassik hatten an ihr vorbeigesehen: die Stadt unter Louis XIV. war ho¨chstens am Rand skizziert worden, in Memoiren und Briefen aufgetaucht. Erst das spa¨te 18. Jahrhundert erfaßt d...
Mit Balzac beginnt die Sichtbarmachung von Paris. Renaissance und Klassik hatten an ihr vorbeigesehen: die Stadt unter Louis XIV. war ho¨chstens am Rand skizziert worden, in Memoiren und Briefen aufgetaucht. Erst das spa¨te 18. Jahrhundert erfaßt die Großstadt als autonomes Gebilde, asl eine Art phantastisches Eigenwesen auf apokalyptischem Hintergrund. England war vorangegangen. Balzac aber stutzt sich auf die franzo¨sischen Vorla¨ufer, Restif und Mercier. Zusammen mit seinen Generationsgenossen zieht er die Bilanz aus der Revolution und dem napoleonischen Kaisserreich: ein gewaltiger Umschichtungsprozeß, der sich erst in diesen Jahrzehnten geistig verarteiten ließ und von einer Phalanx großer Dichter verarbeitet wurde.
Paris als Industriezentrum tritt noch krasser bei Zola hervor. Finazen und Handel, Politik und Kunst, Verwaltung und Eisenbahnnetz wurden gesteuert von einer Weltmetropole mit Kolonialreich. A¨ußerlich bildete sie immer noch ein relativ geschlossenes Ganzes. Durch die großen Straßendurchbru¨che unter Napolen III. war sie erst recht u¨berblickbar geworden. Heute hat sich die Stadt maßlos und wirr ausgedehnt. Der Pariser Romanzyklus von Jules Romains stellt hundert Jahre nach Balzac einen Abgesang dar, wie das geniale Werk Marcel Prousts kurz zuvor.
A¨hnlich der Weg zum Bild von Berlin. Inkubationszeit auch hier mit Gutzkow, Spielhagen, Kretzer und wenigen andern; dichterische Gestaltung der kaum halbwegs industrialisierten Stadt durch Fontane; die eigentliche Großstadt bei Heym 1912, Do¨blin 1929, dann der blutige Einschnitt von 1933, Tru¨mmer, Spaltung und der Beginn des planetarischen Zeitalters. Die alte deutsche Tragik: Berlin von Braunau aus negiert, eine der Hauptsta¨dte der Welt von Hinterwa¨ldern geistig ausgelo¨scht, ehe sie real zersto¨rt wurde. Auch u¨ber Paris lag der Schatten der Zersto¨rung. Der Zusammenbruch war schon 1914 ganz nah und wurde 1940 effektiv. Zweimal wird Paris von jener apokalyptischen Vernichtung bedroht, die Mercier 1780 prophezeit hatte.
Fu¨r Paris wie fu¨r Berlin dient als Folie das apokalyptisch-messianische Doppelbild des verruchten Sodom und des himmlischen Jerusalem. Sakal geto¨nt ist auch das Bild der ‘erfu¨llten Stille’, mit dem die europa¨ische Literatur im 19. Jahrhundert die bisher mißachtete ‘Heide’ sichtbar macht. Die Entwicklung und Abnu¨tzung des literarischen Archetyps folgt a¨hnlichen Gesetzen.
Nicht Lyrik und Theater, sondern die Malerei - vor allem der Impressionismus - hat zusammen mit dem Roman die Vision von Paris dem Weltbewußtsein vermittelt. Und der Surrealismus hat dem Bild von Paris ein paar neue, fahle oder schillernde Lichter aus anderen Regionen aufgesetzt.
Die radikal moderne Erfassung der Großstadt als ‘anonymer Korallenstock fu¨r das Lebenwesen Mensch’ kam nicht aus einer geschichtsu¨berlagerten, uralten Siedlung wie Paris, sondern aus Sta¨dten ohne große Tradition, in denen die Pioniere sich der Zukunft um so mehr ungehemmter o¨ffnen konnten: dem Berlin Alfred Do¨blins.
Die Lehren Baudelaires und Rimbauds haben ihre Fru¨chte getragen. Deutschland beginnt eine ada¨quate Großstadtdichtung zu produzieren. Heyms Gedicht spielt bei dieser Bewußtwerdung der Moderne dieselbe Rolle wie 1831 Vignys ku¨nstlerisch reiferes, geistig tieferes Gedicht 「Elevation」 fu¨r Frankreich.
“Auf einem Ha¨userblocke sitzt er breit.
Vom Abend gla¨nzt der rote Bauch dem Baal...
Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
... Ein Meer von Feuer jagt
Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
Und frißt sie auf, bis spa¨t der Morgen tagt.” (「Gott der Stadt」)