Die gegenwartige deutsche Literatur zeigt eine “unordentliche Pluralitat” zwolf Jahre nach der Wiedervereinigung in einer Vielzahl zueinander offener literarischen Szenen, wie Wolfgang Emmerich erwahnt hat. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitig...
Die gegenwartige deutsche Literatur zeigt eine “unordentliche Pluralitat” zwolf Jahre nach der Wiedervereinigung in einer Vielzahl zueinander offener literarischen Szenen, wie Wolfgang Emmerich erwahnt hat. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gibt es auf dem Feld der deutschen Literatur. Schriftsteller sehr verschiedener Gene- rationen, asthetischer Programme und politischer Glaubensbekenntnisse konkurrieren und koexistieren miteinander. Im wiedervereinigten Deutschland erleben die ehemaligen DDR Schriftsteller, besonders die zweite Schriftstellergeneration große Schwierigkeiten wegen ihres sozialistischen Ideal. Trotz ihrer leitenden Rolle im Fall der Mauer und ihrer Kritik uber den Realsozialismus der spatzeitlichen DDR- Wirklichkeit konnte diese Generation die Hoffnung der Sozialismus selbst nicht aufgeben. Bei dem ‘Literatur-Streit’ nach der Vereinigung handelt es sich im Grunde um die Exekution dieser ambivalenten DDR-Autoren.
Aber trotz der krassen ‘Exekution’ der westlichen Literaten uberleben die Autoren wie Christa Wolf und Volker Braun uber die Grenze von Deutschland als “zeitgenossische Klassiker.”
Die dritte Generation der ehemaligen DDR-Schriftsteller zeigt schon andere Haltung als die der zweiten dem Sozialismus gegenuber. Sie hat die lugende Hohlheit der spa tzeitlichen DDR-Wirklichkeit von Kindheit an erleben und eingesehen, deswegen hat sie sich antiideologischer, mehr subjektiv-individualistischer Gemutslage angehangt. Die Autoren dieser Generation zeigen aber unterschiedliche Reaktion der Ver- gangenheit und der neuen Wirklichkeit gegenuber. Bei Wolfgang Hilbig und Ingo Schulze, zum Beispiel, erscheinen die Vergangenheit und gegenwa rtige Lage als “Schmerz-Amalgam.”
Bei den noch jungeren Autoren wird aber der Zustand des vereinigten Deutschlands auch als neue Chance fur den Beruf und die Karriere empfunden, wie man in Brigitte Burmeisters Pollok und die Attentaterin sieht.
Im Thomas Brussigs Am kurzeren Ende der Sonnenallee(1999) merkt man 10 Jahre nach dem Mauerfall erst die Zuge der Vergangenheits- bewaltigung. In den Situationen gibt es Schmerz auch bei Brussig, aber die Atmosphere des Werks ist ganz anders. Denn der Erzahler steht nicht mehr inmitten der Situation, sondern draußen auf einer anderen Ebene. Er stellt die konkrete Szene zwar unmittelbar dar, doch laßt das Dargestellte durch seinen geflugelten Blick die eigentliche Schwere verlieren. Der geflugelte Blick des Erzahlers, der jetzt uber den ganzen Raum des Romans schwebt, schleicht mal in den Blick des Helden, kommentiert mal die Tat des Helden, also bleibt uberall freiwillig. Diese Freiheit des Erzahlerblicks gibt dem Werk eine unvergleichbare Leichtigkeit, der man bei anderen ehemaligen DDR-Autoren kaum begegnen kann. Die ganze Geschichte ist, so gesehen, ein Durchgang durch die Vergangenheit, der einen Absicht enthalt, sich eine Bilanz aus der DDR-Zeit zu ziehen. Dieser zielbewußte Blick des Erzahlers ist ein Blick des Erwachsenen, der schon alles uberlebt hat, und in einem neuen Raum anders beginnen will. Dieser Blick ist neu und frisch, nicht mehr gebannt vom Dunkel der Vergangenheit. Damit gibt er dem Gewesenen eine schleierhafte Leichtigkeit. So geht alles in diesem Roman. Ernstliche Sache bekommt die Miene der Posse, und aus der lacherlich-trivialen Seite her zeigt sich die schreckliche Miene der Wirklichkeit. Die Episoden auf dem kurzeren Ende der Sonnenalle sind eben die Abbilder, Zerrbilder, Vexierbilder der Spatzeit-DDR-Wirklichkeit.
Wenn das Schreiben den Gegenstand zu verstehen bedeutet, ist dieses Versta ndnis kein Mittel der Bewaltigung? Enthalt die Tat der Bewa ltigung denn nicht immer etwas einnehmende Geste, namlich die Geste der ‘Erinnerung’? Der Erza hler sagt am Ende des Werks: “Gluckliche Menschen haben ein schlechtes Geda chtnis und reiche Erinnerungen.” Diese ironisch-humoristische Geste Brussigs finde ich neu, “potential”, selbstandig.